Ein außergewöhnliches Konzerterlebnis (2)

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In taberna

Der zweite Teil In taberna spielt durchgehend in einer mittelalterlichen Schenke, wo sich ausschließlich Männer treffen. Man erfährt hier etwas über „das Leben auf der Straße“, über „Fresslust“ bzw. „Schlemmen“, über „Glücksspiel“ samt der unangenehmen Folgen und schließlich über maßloses „Saufen“ an den Tischen. Mit der Vagantenbeichte Estuans interius stellt Orff einen Verdi-haften Reißer an den Anfang. Hier brillierte der Bariton Kai Preußker mit opernhafter Dramatik, stimmlicher Kraft und riesigem Stimmumfang. Preußker zeigte sich in allen Belangen souverän und mitreißend gestaltend – was wiederum begeisterten Zwischenapplaus hervorrief.

Zum seufzenden Klavier-Intro betrat nun der Schwan – alias Tenor Ivan Yonkov – schlurfend und mit hängendem Kopf die Bühne. Diesem effektvollen Auftritt folgte die hinreißend gesungene „Schwanen-Arie“ Olim lacus couleram. Parodistisch im Ausdruck und mit strahlenden hohen C‘ s zog der Tenor die Zuschauer in den Bann. Auch der Männerchor warf nach jeder Strophe kraftvoll und sicher sein Miser modo niger ein. Diese grandiose Interpretation des Schwanen-Klagegesangs wurde ebenfalls mit enthusiastischem Zwischenapplaus gefeiert.

Dann wieder der Solo-Bariton in der Doppelrolle als gewissenloser Würfelspiel-Betrüger Ego sum abbas und als Würfelspiel-Opfer Wafna! direkt hintereinander. Stimmlich und gestisch blieb dieser Ausnahme-Bariton seiner Rolle nichts schuldig: Mal in spöttischer Manier – kraftstrotzend sein Opfer verhöhnend, mal als anklagendes, verzweifeltes Opfer – unterbrochen von gestochen scharfen Wafna-Einwürfen des Männerchores – setzte er einen weiteren solistischen Glanzpunkt an diesem Abend. Höhepunkt des „Schenke“-Teils ist zweifellos der Schluss-Chor, den Orff als „Rossini-Opernfinalchor übelster Art“ beschrieb.

Mit überbordendem Temperament, gestochen scharfen Textpassagen, herrlichen Dynamik-Effekten und wirkungsvollen Tempomodifikationen erzielte der Männerchor des Stuttgarter Ensembles die maximale Wirkung. Auch das durchaus anspruchsvolle Zusammenspiel zwischen dem Männerchor und den Instrumentalisten ließ keine Wünsche offen. Bis zur wirbelnden Stretta und dem herausgeschleuderten Io am Ende lauschten die Zuhörer atemlos diesem beeindruckenden Vortrag. Riesiger Beifall für den Männerchor, die Solisten und das Instrumental-Ensemble spiegelten die Begeisterung des Publikums am Ende dieses zweiten Teils wider.

Cours d’amours

Der dritte und letzte Teil – wiederum vom erklärenden Auftritt des Sprechers Rainer Wolf stimmungsvoll eingeleitet – präsentierte nun den Ragazzi-Chor. Ca. 30 Schüler und Schülerinnen der 5a aus der gastgebenden Schule waren von Musiklehrerin Birgit Pfab vorbereitet worden. Mit herzerwärmender Ausstrahlung betraten die Jungen und Mädchen die Bühne, um nach kurzem Vorspiel ihren ersten a cappella Einsatz zu präsentieren: Amor volat undique – so klar und hell gesungen, dass sowohl Orff als auch der Liebesgott Amor ihre wahre Freude daran gefunden hätten. Zusammen mit den Kindern betrat auch die Solo-Sopranistin Fanie Antonelou die Bühne. In leichter, glockenklarer Mittellage beklagte sie das Schicksal einer Frau, die keinen Liebsten hat: Siqua sine socio. 

Als „Quasi-Antwort“ dann das 3-strophige Dies, nox et omnia des Baritons nach Art eines mittelalterlichen Troubadour-Gesangs. Auch diese Arie wieder eine echte Herausforderung: In den sich immer weiter steigernden Schlusskadenzen dieser Liebeswerbung, verlangt Orff Spitzentöne bis zum h1 – um gleich wieder halsbrecherische Lagenwechsel zum tiefen H einzufordern. Mit staunenswerter Leichtigkeit meisterte Preußker auch diese stimmlich besonders herausfordernde Aufgabe. Und sogleich eine Sopran-Antwort: Stetit puella. Mühelos gelang Antonelou der schwierige Quintenaufstieg des Anfangs – um dann über dem Klavier-Ostinato weiche Melodielinien anrührend und eindringlich in intensivem Legato in dieser entrückten Arie zu entfalten.

Die lyrischen Momente weichen jetzt einer wieder etwas turbulenteren musikalischen Gestaltung. Nach den solistischen Eröffnungen des Baritons im Circa mea pectora übernimmt der dreistimmige Männerchor das Anfangsmotiv, ehe in einem virtuosen Dialog zwischen Frauen- u. Männerchor das Mandaliet gleichsam hin- und herfliegt. Mühelos klar artikulierend gelangen beiden Chorgruppen ihre Einsätze punktgenau. Gestische Akkordwechsel und hüpfende Rhythmen, aber auch dynamische Wechsel kennzeichneten die hochvirtuose a-cappella-Nummer des Männerchores Si puer cum puellula. Dessen Tempo und Präzision verblüfften das Publikum und riefen spontanen Zwischenapplaus hervor.

Attacca ging es mit Veni, veni, veni weiter. Temperamentvoll jagte dieser bitonale und sechsstimmige Doppelchor dahin. Noch einmal der Solo-Sopran in einer opernhaft-lyrischen Arie: In In trutina schwankt die heftig umworbene Frau zwischen lascivus amor und pudicitia (lustvoller Liebe und Sittsamkeit). Mit betörender Stimmgebung ließ Fanie Antonelous eindringliche Gestaltung keinen Zweifel darüber aufkommen, in welche Richtung die Entscheidung fallen wird… Überschäumende Lebens- und Liebeslust dann im berühmten Tempus est iocundum. Noch einmal waren sämtliche Mitwirkende musikalisch vereint: Frauen-, Männer- und gemischter Chor überschlugen sich geradezu in ihren temperamentvoll und feurig gesungenen Strophen – und das berühmte accelerando der oh, oh, oh, totus floreo-Stelle der Ragazzi, der Sopranistin und des Baritons versetzte den ganzen Konzertsaal in vibrierende Wellen.

Sensationell der direkte Anschluss vom Solo-Sopran in Dulcissime: In dieser legendären Kadenz-Arie drückt Orff höchste Liebeswonnen aus, die in absoluter Spitzenlage auf d3 und cis3 enden. Fanie Antolenous glänzte hier, makellos und berührend zugleich mit Koloratur-Sopran-Fähigkeiten auf höchstem Niveau. Geradezu hymnisch schloss sich danach der Chor an. Das Ave formosissima ließ noch einmal den vollstimmigen Chor mit großem Orchester-Einsatz sich zur vollen Blüte steigern. Blanziflor et Helena und Venus generosa wurde zum apotheotischen Höhepunkt des Abends und zur Liebeserklärung an das Leben und die Liebe. Noch einmal gemahnt die Schicksalsgöttin an ihre Macht. O Fortuna – ein ergreifender Schluss – von allen Mitwirkenden mit höchster Emphase und intensivstem Ausdruck präsentiert.

Nicht enden wollende Ovationen zeigten die Ergriffenheit und Begeisterung des Publikums. Noch einmal musste der legendäre Schluss-Chor wiederholt werden. Der Abend war eine Sternstunde für den Chor, alle Mitwirkenden und das Publikum: Orffs Jahrhundertwerk hatte seine Magie ein weiteres Mal eindrucksvoll bewiesen.

Bildrechte: Timo Kabel